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500 Kilometer in 24 Stunden durch MV

von Roland

Als 15 Jahre junger Bursche habe ich mir beim Crosslauf in den Lankower Bergen (Schwerin) geschworen: Nie wieder bestreite ich in meinem Leben einen Ausdauerwettkampf. Damals hing mir die Zunge aus dem Hals, die Lunge pfiff auf dem letzten Loch und ich musste noch zweimal einen steilen Berg hoch. Mein Ehrgeiz verbat das Aufgeben, doch der Vorsatz blieb.

Ausdauer war einfach nicht mein Ding. Kurze Strecken, einigermaßen weiteSprünge oder schnelle, kurze Ballwechsel waren die nächsten zwanzig Jahre mein Metier. Irgendwann kam ich doch aufs Rad. Ich brauchte dringend einen Ausgleich für meinen stressigen Bürojob. Was mit dem Kauf eines Mountainbikes vor fünf Jahren noch harmlos begann, wuchs sich so langsam aus und gipfelte in der Vaetternrundan 2002. Bisher.

 

Da sind die Verrückten

Es gibt Entscheidungen im Leben, die trifft man gar nicht selbst. Das sind gruppendynamische Prozesse, an deren Ende man für eine 500 Kilometer Radtour angemeldet ist. Schließlich organisierte Martina die Tour zum Geburtstag der Internetagentur MV-Web, deren Geschäfte sie führt. Ihr Mann Michael, Radfahrer seit er laufen kann, war der Stein des Anstoßes. Dann bekundet auch Ingo Interesse und ich kann doch meine Freunde nicht allein...

500 Kilometer auf dem Fahrrad ist schon eine ganze Menge aber in ein paar Tagen schaffbar. Der Haken dieser Tour: Diese 500 Kilometer sollten in 24 Stunden geschafft werden. Das bedeutet 24 Stunden, von kleineren Päuschen abgesehen, im Sattel. Das bedeutet ein Durchschittstempo von mindestens 25km/h, bedeutet stundenlange Dunkelfahrt durch die Nacht. Oh, es sprach so viel dagegen. Dann noch der frühe Termin, Mitte Mai. Wenig Zeit im kalten Norden für eine vernünftige Vorbereitung auf solch einen Kanten. Zumal 2003 auch nicht mein Radjahr war. Den ganzen Januar kränkelte ich müde und schlapp vor mich hin. Dann zog sich der Winter. Es war bis in den März hinein schweinekalt. Denkbar schlechte Trainingsvoraussetzungen. Und letzlich fehlte mir auch noch Zeit für die Vorbereitung. Beruf und Familie ließen wenig Platz für das doch sehr zeitintensive Training. Immerhin konnte ich mir Anfang Mai eine Woche lang Trainingsvormittage einrichten. Geschafft habe ich da aber auch nur 487 km. Insgesamt hatte ich beim Start der großen Runde noch nicht mal zweitausend Kilometer in den Beinen. Eigentlich zu wenig.

Die letzten Tage vor der Tour war ich innerlich erstaunlich entspannt. Keine schlaflosen Minuten, kein aufgeregtes Kribbeln unter der Haut. Das begann erst am Freitag Abend, als ich mein Zeug zusammenpackte. Mit Ausnahme der Wintersachen, sicherheitshalber fast alles, was ich an Radklamotten besaß. Die Wetterberichte waren sich nicht einig und die Tasche war ausreichend groß. Zumal wir beschlossen unser Zivil zu hause zu lassen und gleich in Sportzeug zum Start zu fahren. Das ist der Vorteil, wenn man in der Nähe von Start und Ziel wohnt. Der Nachteil, auf den ersten und letzten Tourkilometer kennt man jedes Schlagloch mit Vornamen, sooft ist man hier schon gefahren. Aber soweit war es noch nicht.

Erst gab es ein gemeinsames Frühstück der Teilnehmer, garniert mit einweisenden, mahnenden und drohenden Worten des Mitorganisators und Tourführers Andreas. Dann einrollen zum Start vor der Sparkasse in Schwerin. Noch ein paar offiziell ermunternde Worte der wichtigsten Sponsoren und endlich der erlösende Startschuss. Den ganzen Morgen hat mir alles mögliche abwechselnd und durcheinander weh getan. Jetzt saß ich auf dem Rad voller Hoffnung und Zuversicht in 24 Stunden an gleicher Stelle stolz wieder abzusteigen.

500 Kilometer durch Mecklenburg-Vorpommern lagen vor uns. Wollten im Konvoi befahren werden. Vorweg der Tourführer im Auto. Dann das Peleton. Hinten dran die Mechaniker und die Begleitbusse mit den Taschen der Radfahrer. Das Teilnehmerfeld war auf 50 begrenzt. Und weil aus den unterschiedlichsten Gründen der eine oder andere unbedingt noch mit musste, waren wir 60 Radler. So rollten wir ins Land. Allen voran der stadtbekannte Ironman Michael Kruse, per Handy verbunden mit dem meistgehörten Radiosender Mecklenburg-Vorpommerns. Da durfte er ab und an mal ein Statement abgeben und die Ureinwohner des Landes waren gut über uns informiert. Wie gut erfuhren wir in Ventschow als ein Arbeiter, aufgeschreckt bei Pflasterarbeiten am Straßenrand brüllte: “Da sind ja die Verrückten."

Wir rollten am Ostufer des Schweriner Sees in Richtung Norden. In Führung jetzt zwei lange Latten. Brüder die sich in stinknormalen Baumwollshorts, in ziemlich aufrechter Sitzposition, als einzige auf einem normalen Trekkingrad, der Rest fuhr Rennrad, auf die Strecke wagten. Mein lieber Mann, so viel jugendliche Unbekümmertheit. Nach fünf Kilometern mussten wir sie regelrecht aus der Führung drängen. In ihrer Unerfahrenheit hätten sie sonst schon zu Beginn zu viel Kraft vergeudet. Die Unbedarftheit der Helden in Ehren. Aber ganz nebenbei fährt man so eine Tour nun doch nicht. Sie hatten weder Regenkleidung noch vernünftige warme Sachen für die Nacht mit. Zu ihrem Glück blieb es einigermaßen warm und abgesehen von ein paar Tropfen trocken. Und trotzdem schaffte es nur eine Latte bis ins Ziel. Latte eins gab bei Kilometer 310 mit Stechen in der Lunge und wundem Hintern auf. Latte zwei rettete die Familienehre. Aber mit Parterreunterkühlung die ihn ständig zu extra Pinkelpausen nötigte. Die letzte zur Volksbelustigung noch ein paar Meter vor dem Ziel, an einer der meistbefahrenen Kreuzungen am Ostdorfer Ufer in Schwerins-Innenstadt.

Aus meinem Heimatkreis heraus führte ich gemeinsam mit Michael das Feld. Gerade mal vor drei Wochen haben wir die halbe Nacht auf seiner Hochzeit durchgetanzt. Michael ist ein alter Radhase. Er ist schon auf allen Kontinenten herumgefahren und hat eine solche Tour gerade letztes Jahr mitgemacht. So war er einer der drei vom Tourleiter bestimmten erfahrenen Radler, die als Hilfspolizisten im Feld für Ordnung sorgen sollten. Und dass haben sie wirklich gut gemacht. Lücken zu gefahren, bei Bedarf mal ein wenig geschoben und nicht mehr Ordnung als nötig gemacht. Wobei der Koelner Horst bis zum Schluss für gute Laune zuständig war. Runde sechs Kilometer fuhr ich mit Michael in gebührendem Abstand hinter dem Führungsfahrzeug her. Das war meine erste und einzige Führung während der ganzen Tour. Nicht dass ich mich davor gedrückt hätte, aber es gab so viele Fahrer, die sich um den Platz hinterm Auspuff rissen, dass ich schon hätte kämpfen müssen.

Und da bin ich schon bei einem der größten Probleme einer solchen Tour mit einem so großen Fahrerfeld. Wo ordnet man sich am besten ein. Fährt man vorn, hat mein ein wunderbar gleichmässiges Tempo. Die Sturzgefahr ist wesentlich geringer, allerdings der Windschatten auch. Dafür schnüffelt man, besonders in den ersten Reihen, die Abgase des Führungsfahrzeugs in die Lunge hinein. Fährt man hinten hat man abgesehen, von den durch die Müsliriegel bedingten Abgasen der Vorderleute, saubere Luft. Man hat hervorragenden Windschatten der teilweise Sogwirkung hat. Solange das Feld geschlossen bleibt. Diese Geschlossenheit zu wahren, ist aber nicht immer einfach. Jeder kleine Tempowechsel vorn, potenziert sich mit der Länge des Feldes. Ein kurzes Anbremsen vor der Kurve in der Führung, sorgt für eine Vollbremsung hinten und eine wilde Aufholhatz mit teilweise wahnsinnigen Geschwindigkeiten. Die ideale Position gibt es nicht. Ich habe den Zufall entscheiden lassen und mich eingeordnet wie und wo es gerade passte. Im Laufe der 500 Kilometer bin ich wohl auf jeder Position gewesen. Mit Ausnahme einer. Ganz hinten, fuhr ich nie.

Nach der zweiten Rast hatte ich Silvia an meiner Seite. Silvia war eine von drei Frauen im Feld. Mit ihren 52 Jahren war sie älter als die beiden anderen zusammen. Wobei von den jungen die eine aktive Radsportlerin war und die andere den Sozius eines Tandems besetzte. Silvia kam aus Thüringen und war vor dreißig Jahren DDR-Meisterin im Radsport. Also die Grundlagen waren da. Es gab da nur ein kleines Problem. Silvia hatte null Vorbereitung auf diese Tour. Ganze zwei Tage vor dem Start bot der Bruder ihr seinen Startplatz an, da er verletzungsbedingt passen musste. Dazu kam, dass sie noch nie in ihrem langen Radlerleben eine so lange Tour gefahren ist. Das Durchstehen eines solchen Marathons ist zu fünzig Prozent Kopfsache. Man braucht sich nur einzureden: Das schaffe ich. Wer sich sagt: Ich will das schaffen, kann sich schon mal sicherheitshalber einen Platz im Begleitbus reservieren lassen. Den hat Silvia nicht gebraucht. Obwohl es die Umstände nicht gut mit ihr meinten. Ist doch doppelt schwer, wenn zur Halbzeit der Ehemann an der Strecke steht und eine warme Badewanne in 15 minütiger Entfernung anbietet, während sich gerade die Nacht feuchtkalt über einen herabsenkt. Nach dem Rennen hat Silvia gesagt, ohne mich wäre sie die Tour nicht zu Ende gefahren. Ich sehe dass ein bisschen anders. Silvia hat mich nicht allein gelassen. Danke.

Kurz vor der Fähre erwischte es Michael zwei. Sein Reifen knallte so laut, dass das halbe Feld irritiert auf die eigenen Räder schaute. Michael zwei gehörte schon letztes Jahr zu unserer Truppe die in Schweden den Vaetternsee umrundete. Jetzt musste er auf den Werkstattwagen warten. Die beiden Mechaniker hatten alle Hände voll zu tun. Es gab wirklich eine ganze Menge luftleerer Reifen. Im Normalfall wurde ein Ersatzrad eingehängt, unterwegs das Original repariert und an der nächsten Rast wieder ausgetauscht. Ein Fahrer schaffte es sogar, auf den ersten hundert Kilometern drei Reifen platt zu fahren. Erst seinen, dann den Ersatz und dann sein frisch geflickten. Michael zwei brauchte kein Ersatzrad. Durch die verpasste Fähre waren wir weg und er musste im Werkstattwagen bis zur nächsten Rast mit. Das war die erste große Pause mit warmem Essen. Es gab Nudeln mit mehlpampiger Tomatensoße. Ich hatte mir schon den Abend davor eine große Portion Bratnudeln gegönnt und freute mich über die Abwechslung.

Wir fuhren durch Fischland auf den Darss. Der Wind, der es bis dahin gut mit uns meinte und leicht in den Rücken fächelte, blies plötzlich stürmisch von vorn. Ein komisches Phänomen. Dazu trieb er dunkle Wolkenbänke vor sich her. Ich hatte mich vom Feld abgeschaltet. Radio in die Trikottasche und Stöpsel ins Ohr. Der letzte Fussball-Bundesligaspieltag wollte gehört sein. Entspannte Unterhaltung für mich. Hansa war durch, der Meister Bayern stand schon lange fest und ob nun Mönchengladbach, Leverkusen oder wie erwartet Bielfeld absteigt, war mir so ziemlich piepegal. Ich brüllte jedes Tor ins Fahrerfeld. Lustig, dass Ex-Meister Dortmund zu Hause nicht gegen Absteiger Cottbus gewinnen konnte und Platz zwei noch an Stuttgart verlor. Fussball war vorbei, ich schaltete das Radio ab, ließ aber die Stöpsel im Ohr. Ein guter Schutz gegen den Wind. Musik wäre zwar angenehm gewesen aber für mich allein doch asozial. Wenn man in einer solchen Gemeinschaft unterwegs ist, sollte man schon ein Ohr für den Nebenmann haben.

Es regnete ein paar dicke fette Tropfen. Der Tourleiter ließ halten und Regensachen überziehen. Eine der wenigen unglücklichen Entscheidungen. Kaum übergezogen, zog die schwarze Wand über uns ab und wir schwitzten elendig unter der Regenhaut. Vom Darss herunter in Richtung Barth mussten wir über die Pontonbrücke. Ein gefährliches Pflaster für unsere schmalen Rennradreifen. Warum wir ausgerechnet dort den wohl vorhandenen guten Radweg nicht nutzten, blieb das Geheimnis des Tourleiters. Genau so schwer verständlich wie seine Entscheidungen uns andernorts auf Radwege zu schicken. Die sind einfach nicht für einen Tross von über 50 Fahrern ausgelegt. Und wenn dort mal der Gegenverkehr nicht schnell genug vom Rad stieg oder besoffen war, wurde es kreuzgefährlich. Auf dem Weg zu Deutschlands größter Insel, Rügen, wurde abschnittsweise von den jungen Wilden im Feld vorn so viel Gas gegeben, dass erfahrene Radler sich um das Durchhaltevermögen des halben Feldes sorgten. Vor der Fahrt gefiel mir auf dem Routenplan die kleine Inselschleife überhaupt nicht. So ein kleines Schnurpselchen als Anhängsel der großen Runde. Als wir über den Rügendamm fuhren, sah ich die Sache allerdings ganz anders. Das hatte schon was, auf dem Rad über die Ostsee.

Allen voran Hendrik. In Sachsen lebender Berliner, Journalist, bester Freund des Freundes und selber Freund. Hendrik, war selbstverständlich auch letztes Jahr in Schweden dabei. Hendrik ist immer dabei, wenn es abenteuerlich wird. Und immer in Stimmung. Na gut, fast immer. Wir waren bei weitem nicht die stärksten Fahrer im Feld. Aber mit Sicherheit die lautesten. Auf Rügen wurde es noch einmal richtig schnell. Alles rechnete mit einer kurzen Runde und Fahrt zur großen Pause nach Stralsund. Ich nicht. Ich hatte die Marketenderin an der letzten Rast gefragt und wusste, dass es auf der Insel noch einen Zwischenstopp geben würde. Mit meinem Wissen hätte ich eine ganze Menge Wetten im Feld gewinnen können.

Nach der kurzen Rast begann es zu dämmern. Die ersten Lichter wurden eingeschaltet und wir rollten zur Halbzeitpause nach Stralsund. Gut 260 Kilometer lagen hinter uns, als wir in die Stadt rollten. Die ersten zehn Stunden im Sattel waren geschafft und mein Tachometer zeigte auf einmal Null an. Einfach verabschiedete er sich und begann neu zu zählen. Ich hätte aus dem Sattel springen können! Genau so hat er sich auch schon letztes Jahr in Schweden ausgeklinkt. Bloß glaubte ich da, dass er beim Radhalten während einer Pannenreparatur aus Versehen genullt wurde. Ich hatte mich so auf die 500 im Tageskilometerzähler gefreut. Pustekuchen. Von jetzt an war ich auf die Gesamtdaten der Anderen angewiesen.

Das Dorinth-Hotel empfing uns mit extra gedeckten Tischen. Und wir wurden bedient. Ich war allerdings auch schnell bedient. Es gab Nudeln. Schon wieder Nudeln. Pasta in allen Ehren. Aber drei Mahlzeiten nacheinander ist zuviel Italien auf einmal für einen Mecklenburger Jungen wie mich. Aber man muss ja essen während einer solchen Tour. Wer einmal auf dem Hungerast gesessen hat, weiß wovon ich rede. Ich drückte die Nudeln in mich hinein. Die Soße war scharf, und oh welche Freude, mit richtiger Fleischbrockeneinlage.

Wenn ich die Berichte anderer Marathonläufer oder -fahrer lese, fällt mir auf dass sie alle anständig abnehmen während einer solchen Strapaze. Ich nicht. Ich nahm ein sattes Kilogramm zu. Und ich meine nicht beim Wiegen direkt nach dem Rennen. Da sind die Werte je nach momentanem Flüssigkeitsstand äußerst variabel. Ich meine das Wiegen an den nächsten Tagen, an denen sich das Kilogramm Mehrgewicht klar bestätigte ohne das das große Fressen nach der Tour einsetzte. Das große Fressen während der Tour war Schuld. Und ich kann nicht behaupten, mich unterwegs jemals als Gast einer Schlemmermeile gefühlt zu haben. Wie sehnte ich mich nach einer schönen fetten Bratwurst, einem saftigen Steak oder einem Teller Bratkartoffeln mit hausgemachtem Sauerfleisch. Statt dessen stopfte ich, ganz vernünftig, staudenweise Bananen, vitaminhaltige Fruchtgetränke und jede Art Vogelfutter in Form unterschiedlichster Müsliriegel in mich hinein. Kraft hatte ich somit genug. Aber auch allerhand Verdauungsprobleme. Nichts wirklich ernstes. Auch war ich und mit diesem Problem nicht allein. Aber was ich in der zweiten Hälfte der Tour an Wind machte, ging auf keine Kuhhaut. Ehrlich gesagt, wäre ich nicht gern hinter mir gefahren. Zum Glück fuhren wir mitten durch landwirtschaftlich geprägtes Gebiet und da war die Zuordnung der Duftnoten nicht so einfach.

Der Tourleiter drängte zum Aufbruch. Wir lagen ein paar Minuten hinter seinem Zeitplan und machten uns nachtfein. Lange warme Kleidung anziehen und die Beleuchtung überprüfen. Jetzt begann der unangenehmste Teil der Reise. Die Fahrt in die kalte dunkle Nacht. Und die zweite Halbzeit begann so schlecht, wie sie kaum hätte schlechter beginnen können. Am Ende einer Ehrenrunde durch Stralsund, der Tourleiter hatte sich wohl verfahren, klappte auf den letzten Metern Kopfsteinpflaster plötzlich mein Lenker nach unten. Durch das Gerüttel löste sich die Verschraubung. Gerade war die Pausenmüdigkeit aus den Knochen und ich wieder einigermaßen auf Betriebstemperatur. Nun stand ich am Werkstattwagen. Zum Glück musste das Fahrerfeld an einer roten Ampel warten. Zum Pech dauerte es, bis die beiden Mechaniker den passenden Innensechskantschlüssel fanden. Mein Feld war weg. Keine Chance allein hinterherzufahren, zumal ich die genaue Route nicht kannte. Also Rad ans Auto, rein und los.

Die beiden Mechaniker waren alte, erfahrene, sehr liebenswerte Schrauber, die schon zig Fahrräder auseindergenommen und wieder zusammengebaut hatten, als ich noch nicht mal auf dem Dreirad das Gleichgewicht halten konnte. Sie redeten pausenlos miteinander und erinnerten mich irgendwie an Waldorf und Stadler aus der Muppetshow. Ehrlich gesagt, traute ich den beiden das folgende Überholmanöver des Fahrerfeldes nicht zu und schloss sicherheitshalber beide Augen. Und schon saß ich wieder auf dem Rad und fuhr ein paar hundert Meter vor dem Fahrerfeld allein durch die Nacht. Nach der bulligen Hitze im Auto fror ich jetzt erbärmlich, versuchte mich einigermaßen warmzufahren und war heilfroh als mich der Tross einholte und wieder aufnahm. Ein Mitfahrer rief mich zu sich in die vierte Reihe. Er war allein und suchte Begleitung für die Nacht. Bis zur nächsten Rast unterhielten wir uns angeregt, dachten uns skurille Geschichten aus und lachten viel. Nachher wusste ich ziemlich gut über ihn und seine Familie nebst Planung Bescheid. Was ich nicht wusste, war, wie er aussah und wie er heißt. Er hatte irgend etwas blaues mit langen Ärmeln an. Mehr war mir ehrlich gesagt auch völlig egal. Denn die erste Stunde langweilige Nacht war unterhaltsam geschafft.

Die nächste Verpflegungsstation lag mitten in einem vorpommerschen Dorf. Gegenüber vom ehemaligen Konsum, der vor fünf Jahren schloss. Direkt vor der Dorfkneipe, in der vor zwei Jahren der letzte Gast bedient wurde. Und unter Anteilnahme der örtlichen Jugend, die auf dem Platz ausharrte, als wenn der Kneiper nochmal zum Freibier rufen würde. Für die Mädels und Jungs waren wir die Attraktion des Jahres. Den Sprüchen und Kommentaren nach zu urteilen, darf dort nach Mitternacht keiner mit Gehirn auf die Straße. Und das die deutsche Sprache auch eine Grammatik hat wusste dort anscheinend auch keiner. Das uns ein paar menschenleere Örtchen weiter zwei einsame, besoffene Mädel beim Winken fast in die Räder fielen, bediente wirklich alle Klischees auf einmal und passte so wunderbar in mein Bild von Vorpommern bei Nacht.

Das Knie tat weh. Von Kilometer zu Kilometer immer mehr. Zum Glück nur das rechte. Diese Schmerzen habe ich öfter, seit ich mich im letzten Jahr an einem Wochenende mit Terasse pflastern und Radtraining übernommen hatte. Und da bin ich bei einem Grundproblem einer solchen Tour. Egal ob zu Fuß, per Rad oder sonstwie. Irgendwann gefällt es irgendeinem Körperteil nicht mehr. Er beginnt zu schmerzen. Schmerzen sind Warnsignale. Das Gehirn will uns sagen, hey, Alter, da ist irgend etwas nicht in Ordnung. Wer einen Marathon bestehen will, muss lernen diese Schmerzen zu ignorieren.

Die weitere Nachtfahrt war stinklangweilig. Da fragt man sich schon bei so manchem Tritt, warum man sich so etwas antut. Es ist stockdunkel, die batteriebetriebenen Lampen geben nach und nach ihren Geist auf und der Tourleiter lotst uns auf eine dermaßen kaputte Straße, die den Namen Straße nicht verdient hat. Riesige Schlaglöcher, Pfützen, Fahrbahnabsätze und Steinchen machten die Piste kreuzgefährlich. Reihenweise rumpelten Vorderräder in Löcher, drifteten Hinterräder weg, kamen Warnrufe zu spät. Handzeichen waren im Finsteren unsinnig. Wie durch ein Wunder ist keinem etwas Ernsteres passiert. Endlich wieder auf vernünftiger Straße hielten uns die Nachtigallen aus den Büschen am Wegesrand wach. Ihr fröhliches Singen begleitete uns in den Morgen.

Den Landkreis Demmin konnten wir wieder sehen. Eine bittere Ecke. Deutscher Meister in der Arbeitslosigkeit. Und die Perspektiven sind auch nicht gerade rosig. Im grauen Morgendunst mit Nebelbänken wirkte die Gegend auch nicht sehr einladend. Ein paar Stunden später hätten wir ganz andere Erinnerungen behalten. (Demmin? Ja, mit den Arbeitslosen, das ist schlimm. Aber schön ist es da.) So bleibt Demmin für uns eine trübe Gegend, wie geschaffen für das Elend. Manche Ecken haben eben die sprichwörtliche Scheiße am Bein. Auf einmal haben wir Polizeischutz. Kreuzungen werden für uns gesperrt obwohl außer uns die einzigen anderen Fahrzeuge weit und breit grünweiß sind und blaue Lampen auf dem Dach haben. Wir wundern uns über den Service und erfahren später, das gerade ein Autofahrer mit Schüssen in Arm und Bein durch die Polizei gestoppt wurde. Also, gefährlich ist es dort auch noch.

Große Rast in Malchin. Es gibt wieder etwas Warmes zu essen. Wunderbar in den Morgenstunden nach einer kühlen, neblig feuchten Nacht. Es gibt Nudelsuppe. Ausgerechnet Nudeln. Ich bin von Nudeln pappesatt und verzichte dankend. Der Tourleiter dreht am Zeiger. Er will mit dem Führungsfahrzeug das Tempo erhöhen, weil wir nach seiner Rechnung hinter dem Zeitplan zurück liegen. Mir ist sein Zeitplan piepegal, ich will mit sovielen Fahrern wie möglich heil wieder ankommen. Es gibt einen kleinen Disput. Das Tempo wird vorn erhöht, die Hälfte geht nicht mit, das Feld reißt auseinander. Das zwingt die Führung zu gemäßigterem Tempo. Alles pegelt sich wieder ein.

Die Strecke wird jetzt richtig schön. Wir fahren durch die Mecklenburger Schweiz. Das heißt Berge. Jedenfalls dass, was man hier im Norden Berge nennt. Durch die sanft hügelige Landschaft geht es die letzten hundert Kilometer ständig hoch und runter. Mit 400 Kilometern in den Beinen mutierte für einige jeder Hügel zum Großglockner. Für mich und mein schmerzendes Knie kommen die Berge gerade recht. Bergauf gleichmäßiges Treten, nicht so unstet wie im Peleton, bergab entspannen. Die Sonne vertreibt den Morgendunst und es wird ein richtig schöner Tag. Die leisesten Zweifel der Nacht sind verflogen. Mir geht es blendend. So ist es im Leben. Da gibt es gute Tage, weniger gute und schlechte. Und wenn man richtig Pech hat erwischt man einen gebrauchten Tag. Und alle hundert Tage hat man einen Sonnentag. Genau so einen habe ich bei dieser Tour erwischt. Die letzten hundert Kilometer waren die leichtesten. Ich bin die Berge hochgefahren wie ich wollte. Habe mich zurückfallen lassen um bergab noch mal richtig Gas zu geben. Habe hinten Lücken zu gefahren und Silvia aufgemuntert. Und das war überhaupt das Wichtigste. Wenn man eine solche Tour fährt, ist ein Partner eine feine Sache.

Normalerweise ist Ingo mein Partner. Wir wohnen Haus an Haus, arbeiten Hand in Hand und fahren hunderte Kilometer Jahr für Jahr gemeinsam Rad. Wir waren auch jetzt zusammen unterwegs. Aber es ergab sich halt das Ingo und Hendrik aufeinander acht gaben und Silvia und ich aufeinander aufpassten. Sicher braucht man nicht unbedingt in einem solchen Konvoi einen festen Partner. Wobei fester Partner nicht heißt, dass man ewiglich als steifes Paar nebeneinander her fährt. Partner heisst: beim Losfahren nach der Rast schauen ob der andere fertig und mit am Start ist und nicht gerade für kleine Jungs. Dann heißt es auf den anderen warten um gemeinsam wieder ans Feld zu fahren. Partner heisst: dem anderen Vertrauen, und sich rausziehen lassen, wenn man mal in ein psychisches Loch fällt. Der Partner oder besser gesagt die gegenseitige Patenschaft ist der doppelte Boden bei einer solchen Tour. Semiprofessionelle, marathonerprobte Radziegen können darüber mit Sicherheit nur lachen. Doch für freizeitfahrende Vollblutamateure wie ich einer bin, kann der Partner lebenswichtig sein.

Mit Partner und guter Laune steuerten wir die letzte Rast in der Nähe von Brüel an. Schlappe vierzig Kilometer vor dem Ziel und viel zu früh. Das Zeitpolster war so fett, dass wir noch mal lange rasten konnten und mussten. Denn 500 Kilometer in 24 Stunden wollten eingehalten werden. Wer zu früh kommt, wird nicht gebührend empfangen. Und dass wollte schließlich keiner. Wenn man schon so weit fährt, will man auch anständig bewundert werden. Der Rest war für mich nur noch ausrollen, obwohl das bisherige Durchschnittstempo gehalten wurde. War wohl mehr eine Kopfsache. Dank meines hervorragend zu meinem Hintern passenden Sattels und anständig Vaseline tat mir nicht mal mein verlängerter Rücken weh. Und auch von Müdigkeit keine Spur. Zwei drei kurze Gähnübungen in der Nacht waren alles. Ist schon erstaunlich, was so ein Mensch alles wegstecken kann.

Der Tourleiter hatte sich immer noch verplant. Vor den Toren Schwerins ließ er noch einmal halten. Wir waren immer noch zu früh. Keine Ahnung was ihn in Malchin solche Panik machen ließ. Er hielt noch eine kurze Ansprache und war endlich ein wenig entspannter. Also, mein lieber Andreas. Das hast du im großen und Ganzen schon gut gemacht mit uns. Und solch eine Horde Verrückter heil durch eine solche Tour zu bringen, ist eine beachtenswerte Leistung. Doch es war schon deine fünfte Tour als Organisator. Und da hätte ich mir den Umgang miteinander etwas entspannter gewünscht.

Silvia verfluchte jeden Tritt. Sie wollte nur noch runter vom Rad. Ich freute mich. Fuhren wir doch haargenau die Strecke in die Stadt hinein, die ich tagtäglich zur Arbeit fahre. Nur mit dem klitzekleinen Unterschied, dass ich dieses Mal nicht den Radweg nutzte sondern auf der viersspurigen Einfallstraße rollte. Ein geiles Gefühl. Zumal viele Autofahrer, informiert durch die Berichte auf Antenne MV, begeistert hupten und uns zu winkten. Geschafft. Über 19 Stunden saßen wir im Sattel. Gefahren sind wir insgesamt 508 Kilometer (die Radtachos zeigten alle unterschiedliche Werte und ich lege hier mal Silvias Zahl zu Grunde, da sie beim Einstellen ihr Rad exakt ausgemessen hatte). Im Durchschnitt waren mir mit einem Tempo von knapp 27 km/h unterwegs. Von den offiziellen Reden zum Abschluss habe ich nichts mitbekommen. Am Ziel warteten meine drei Frauen auf mich. Froh ihren Mann und Papa gesund und munter wieder zu haben. Und dann musste ich beim gemeinsamen Radlerrühstück erstmal viel, viel Kaffee trinken. Also die Verpflegung unterwegs war, trotz Nudeln satt, schon in Ordnung. Nur 24 Stunden ohne Kaffee, das war hammerhart.

Nach der Tour ging es mir erschreckend gut. Tagsüber tat mir zwar noch mein Knie weh, vor allem wenn ich länger nicht in Bewegung war. Das war aber auch das einzige Problem. Eine Stunde Mittagsschlaf reichte um die Batterie für den Rest des Tages aufzufüllen. Am Abend tranken Hendrik, Ingo und ich noch zwei, drei Tourverdauungswhiskys und am nächsten Montag war ich mit nur leichtem Muskelkater pünktlich und frisch zur Arbeit.

Was bleibt ist die Erinnerung an eine Menge netter Verrückter und eine interessante Tour. Und ganz nebenbei hat man die Messlatte für die persönliche Leistungsfähigkeit wieder ein bisschen höher gelegt.

Roland im Juli 2003